„Ich bin der Sohn meiner Eltern. Das ist eine Katastrophe. Die hat mich bestimmt.“

Thomas Harlan, Hitler war meine Mitgift

Thomas Harlan

Thomas Harlan 2001 (Bild: Teutopress)

Thomas Harlan ist in der deutschen Nachkriegswelt ein herausragender Solitär. Sein Werk geht ins Offene, bis an die Grenzen des Ausdrucks, sowohl in der Sprache seiner Prosa als auch in der Bild- und Klangwelt seiner Filme.

Nachdem Thomas Harlan Deutschland 1948 verlassen hatte, lebte er in Frankreich und Italien. In den 1960er-Jahren recherchierte er NS-Verbrechen in polnischen Archiven, später unterstützte er Widerstandsbewegungen und Umstürze in der ganzen Welt (etwa in Chile, Portugal, Mocambique). In den 1950er- und 1960er-Jahren schrieb er Theaterstücke, später drehte er Filme. Ab 2001 zwang ihn seine Lungenkrankheit zur Rückkehr nach Deutschland – und damit auch in die deutsche Sprache. Mit 71 Jahren veröffentlichte er sein Debüt, die Erzählung „Rosa“. Es folgten das Monumentalwerk „Heldenfriedhof“ sowie ein Erzählband.

Mit jedem Werk erfindet Thomas Harlan ein neues Genre, zuletzt mit „Veit“, seinem Brief an den Vater: Abbitte, Anklage, Verdammnis und Liebeserklärung in einem.

Mit dem Film „Jud Süß“ hatte sein Vater Veit Harlan in den Augen des Sohnes „ein Mordinstrument“ geschaffen. Die Unfähigkeit des Vaters, diese Schuld anzuerkennen, war für den Sohn ein ewiger Stachel. Zeitlebens war Thomas Harlan fassungslos – über die Vernichtung der Juden ebenso wie über die Macht, die ihre Mörder im Nachkriegsdeutschland wieder erlangten. Seine Herkunft war ihm in mancher Hinsicht Anlass für sein Schaffen – sein Werk allerdings kehrt zu diesem Anlass nicht zurück, sondern es bricht zu neuen Ufern auf.

In Thomas Harlans Prosa kommt die Erinnerung nicht zur Ruhe. Er holt in seinem Schreiben nicht hervor, was im Gedächtnis abgelegt ist, sondern er erschafft das Vergangene neu. Seine Sprache nimmt sich jede Freiheit, und doch gibt es kein zufälliges Wort. In „Rosa“ und „Heldenfriedhof“ betreten wir eine Terra Incognita der Vergangenheit, deren Rezeption und Erforschung noch kaum begonnen hat.

Diese Website bietet Material zu Thomas Harlans Werk. Die Aussagen in der rechten Spalte werfen Schlaglichter auf sein Denken und, in Form von Zitaten, auf seine Bücher. Eine Dokumentation der Artikel, die über Werk und Person erschienen sind, findet sich jeweils zu den einzelnen Titeln sowie unter Presse. Darüber hinaus haben alle Leserinnen und Leser die Möglichkeit, sich in Kommentaren zu Thomas Harlans Werk zu äußern.

Ergänzungen, Anregungen, Kritik etc. zu dieser Website sind willkommen – bitte benutzen Sie hierfür das Kontaktformular.

Es besteht die Möglichkeit von Gastbeiträgen.

Sieglinde Geisel
(Autorin dieser Website)

„Ihre faule Zunge herausreißen“

Thomas Harlans Täterliteratur

26. und 27. Januar 2023, Literaturforum im Brechthaus, Berlin

Eintritt frei

Alle Veranstaltungen werden gestreamt

„So etwas Ähnliches wie die Wahrheit“.
Zugänge zu Thomas Harlan

Cover Thomas Harlan_2

Herausgegeben von Jesko Jockenhövel und Michael Wedel.

edition text + kritik 2017, 233 Seiten, 29 Euro.

Mit Beiträgen von Carsten Heinze, Tobias Ebbrecht-Hartmann, Sven Kramer, Christian Ahlrep, Jesko Jockenhövel, Susanne Lösch, Werner Renz, Christoph Schneider, Jeanne Bindernagel, Konstanze Hanitzsch, Sieglinde Geisel, Chris W. Wilpert.


Dialog aus „Boulevard Bio“

Thomas Harlan 2001 in „Boulevard Bio“

Alfred Biolek: Herr Harlan, Sie sind von Beruf Filmregisseur, würde ich mal sagen, Autor, Sie haben viele Drehbücher geschrieben, im letzten Jahr kam Ihr erster Roman Rosa auf den Markt, und vieles andere, was man gar nicht auf einen Nenner bringen kann.

Thomas Harlan: Ja. Selbst bei dem Wort Beruf bin ich unsicher.

Alfred Biolek: Sie haben wahrscheinlich eher eine Berufung?

Thomas Harlan: Das bestimmt nicht. Das ist so ein großes Wort.

Alfred Biolek: Sie sind 71 Jahre alt und haben ein bewegtes Leben zwischen großen Extremen gelebt. Ich will mal ganz kurz nur sagen: Sie sind aufgewachsen als Kind des prominentesten Filmregisseurs der Nazizeit, Veit Harlan, der unter anderem den berüchtigten Film Jud Süß gemacht hat; Joseph Goebbels war ein Freund des Hauses, von dem Kind Thomas hoch geschätzt; nach dem Krieg waren Sie glühender Nazi-Jäger, ein Kommunist aus Überzeugung, Revolutionär in Chile und Portugal, engster Freund von Klaus Kinski und bis heute politischer Idealist und Abenteurer zugleich.

Thomas Harlan: Ich bin mit fast keinem Wort einverstanden – aber bitte.

(Boulevard Bio, „Nichts als die Wahrheit“, Sendung vom 22. Mai 2001, WDR)