Thomas Harlan: Heldenfriedhof

Thomas Harlan:
Heldenfriedhof
rororo Taschenbuch, 720 Seiten, Reinbek 2011
Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band 3
(Erstausgabe Eichborn Berlin 2006)

Klappentext

Thomas Harlans Roman ist ein Kosmos aus unzähligen historischen wie fiktiven Personen und spielt an so verschiedenen Orten wie Triest, Mozambique und der Ramsau. In verschiedenen Erzählstilen werden Ereignisse zwischen 1942 und 2000 behandelt.

Schlüsselfigur in dem Geschehen ist Enrico Cosulich, der als Leiter des Instituts für forensische Medizin in Triest und als Sohn eines der von Nazis ermordeten Opfer von »San Sabba« mit einem rätselhaften Massenselbstmord in Verbindung steht. Cosulich schreibt an einem Folgeroman mit dem Titel »Heldenfriedhof«, der einen »Untersuchungsbericht, ein bis ins Unendliche reichende Forschungsprojekt« darstellt.

Der Tag, an dem der erste Teil dieses Romans veröffentlicht wird, ist genau jener 26. Mai 1962, an dem sich das darin Erzählte tatsächlich ereignet. Realität und Fiktion verbinden sich zu einer Schleife, die sich bis zum Ende des Romans nicht löst.

Thomas Harlan über „Heldenfriedhof“
(Erläuterungen zu Figuren, Schauplätzen und Ereignissen)

Rezensionen

Essay

Hörspiele zu „Heldenfriedhof“

  • Heldenfriedhof. Der Roman des Enrico Cosulich (Bayrischer Rundfunk 2006). Bearbeitung: Michael Farin. Komposition: Martina Eisenreich. Regie: Ulrich Lampen. Länge: 58’31.
  • Heldenfriedhof. Ich bin nicht mehr in mir – Das Leben des Enrico Cosulich (Bayrischer Rundfunk 2006). Bearbeitung: Michael Farin. Komposition: Martina Eisenreich. Regie: Ulrich Lampen. Länge: 49’35

Zitate aus „Heldenfriedhof“

“…, denn wer, welcher Leser wohl, wüßte nicht, daß ein Werk allein aus sich selbst die Gesetze ableitet, aus denen es hergestellt, aus nichts anderem als sich selbst gemacht und also autonom ist, und daß, wo dies nicht der Fall ist, von einem Werk nicht die Rede sein kann, geschweige denn von Kunst.“ (Taschenbuchausgbe S. 237)

„Er habe, läßt Heinrich ihn auf diesen Seiten sagen, seit jungen Jahren gewußt, daß nichts anderes sich in seinem Jahrhundert ereignet habe als eigentlich das Eine; daß dieses Eine warhscheinlich auch noch im kommenden, dritten Jahrtausend die Beschäftigung mit etwas anderem als diesem Einen auschließen würde und alle dennoch erwähnenswerten Leistungen oder Tätigkeiten, wenn auch wohl nirgends denn in der Kunst, allein deshalb noch auf eine gewisse Gültigkeit hoffen könnten, weil sie sich eben auf dieses Eine, es vorausahnend oder in sich aufnehmend, bezögen und von ihm untrennbar gemacht hätten wie Wissen; alles übrige habe aufgehört zu zählen; es verginge, wie Zeit, im Licht. (Taschenbuchausgabe S. 688)

„Nun, du weißt so gut wie ich, mein Lieber, man kann einen Apfel nicht von innen schälen. Es ist unmöglich. So ist es mit dem Roman. Das ist nicht möglich (…), ich hätte mein Fleisch zu diesem Zweck hinter mir noch zurücklassen müssen.“ (Taschenbuchausgabe S. 33, Enrico in einem Brief an Albino Bubnic)

„Seine Erzählung war nicht lang. Breit wie ein flüssiges Stahlband, das, anscheinend unsichtbar, die Masse ihrer Figuren miteinander verschmolz, schaffte sie sich, dunkel, stockend, noch ehe sie begonnen hatte, durch das Gewirr schmorender, im Erlöschen begriffener Fäden, Fasern abgerissener Lebensläufe, in den Stoff heim, ins Nichts, aus dem sie, rückblickend in altes Licht, gemacht worden wäre, und dauerte.“ (Taschenbuchausgabe, S. 261)

„Er dachte, als er dies las, an Hitler und war, dessen unerhörter Größe gewahr, der Betäubung, in deren Zustand sie die Welt versetzt hatte, plötzlich näher als je zuvor und wie in ihr aufgelöst und verwechselbar mit ihm und als Teil von ihm auf Dritte einwirkend unheilbar unfähig, sich dem Sog zu entziehen, in welchem er sich wiederfand, als habe der Zeuge die Gestalt eines Mittäters angenommen und würde durch seine Allgegenwart die Untat verkleiden helfen womöglich in Schönheit neuerlich begehen lassen können straflos mit ihrer Größe auf immer wachsend als lebendiges Verbrechen in die Zeitgeschichte eingehen mit dieser in den Abgrund, den er verschlungen hatte, wie wir oft auch das Schreckliche zu uns nehmen, das, wenn wir von den Engeln abfallen aus allen Himmeln, nie aufhören würde, uns zu verfolgen (…)“ (Taschenbuchausgabe S. 106)

„Es gibt Fälle, sagte Enrico, in denen die Aufgabe, die einem Menschen gestellt wird, dessen Fassungsvermögen übersteigt, er faßt sie nicht, er hat nach getaner Arbeit kein Verhältnis mehr zu ihr, keinen Begriff; die Aufgabe, vier Millionen Menschen vom Leben zum Tode zu befördern, bemerkte er, zu der Figur Hermanns zurückkehrend, überfordert die Möglichkeiten eines Autoschlossers, nach getaner Arbeit auch die Person noch zu beschreiben, die eben dann ihre Tatkraft herrenlos auf den eigenen Verstand losgelassen hatte, und um wieviel mehr noch den Hilflosen, eine solche später, etwa als Schuldige, im Garten von Johanneskirchen wiederzuerkennen, oder, begegnete er ihr je, in den Großstädten seiner Kindheit.“ (Taschenbuchausgabe S. 187)

„Berühmt in ihrer Unterwelt und auch in den ganz und gar anderen, darüberliegenden Welten waren sie deshalb geworden, weil sie, zweiundneunzig an der Zahl, nie mehr und nie weniger gewesen waren wenigstens theoretisch und immer noch so hießen und weil auch sie selbst, die wußten, was schwere, undankbare Arbeit ist, bis heute, auch, warum nicht, öffentlich, immer noch den Verstand darüber verloren, daß zweiundneunzig Mann in den Lagern vier Millionen hatten wegschaffen und aus der Welt bringen können dürfen ohne viel Federlesens (ein Gedanke, der, unweigerlich, an Gefieder rührte, Rupfen, Flattern, Ausziehen, an Sein, Leichtsein, Auflesen, Übrigbleiben, Nichtsein), ohne jegliches Anzeichen also von Kunstverstand, der sie ausgezeichnet hätte, besonderem, handwerklichem Können, ohne Eigenschaften, die sonst für umfassende Leistungen erforderlich waren; denn umfassend war an ihnen nichts außer der Leistung; keine Begabung, kein Überblick, nur Treue, die Kunst des Jaunens, des Wedelns eingezogener Schwänze, die monumentale Potenz ihrer NIchtigkeit, die sie bis ins letze Glied, in die verstocktesten Eier heimgesucht und eben umfaßt hatte wie ein einziges, riesiges Gefühl.“ (Taschenbuchausgabe S. 396)

„Unter der Krempe glotzten königsblau Knöpfe, die eisige Unbefangenheit der Fische. Kein Fisch schwamm so hoch, kein Fett, wie Werner im deutschen Wasser.“ (Taschenbuchausgabe S. 282)

„Der einsatzlose Tag verlief sich auch in der Mannschaft wie im Sand. Spurlos vorübergegangen war anscheinend der ärztliche Besuch an ihnen, die wie immer, wenn nichts geschah, im Saal saßen und heute, langsamer denn je, Karten spielten, nichts sagten, manchmal doch etwas, ihren Puls hörten, manchmal nicht hörten, dann an ihren Hals griffen, die Schlagader abtasteten, sich schämten, an ihr dann kratzten, wußten, daß dort wenigstens, wenn sie sonst schon nichts hörten, das letzte, wenn auch schon stumme Klopfen ihr Vorhandensein bestätigen würde, und dennoch, gleichzeitig, gleichgültig die Schubkraft des Unglücks in den um so unbeweglicheren Körpern ihre Herzbeutel über den Haufen rennen ließ, bis ihnen das Blut in den Kopf schoß.“ (Taschenbuchausgabe S. 336)

„Seeschlickboden nannte er in einem, dann zuguterletzt doch gestrichenen Text aus Kapitel 41 jene festgefügte Masse der Trauer, eine unter dem Meeresspiegel Materie gewordene Stille, in welcher nicht der Atem mehr, sondern nur noch das Flackern des Herzens, ein Echo längst erloschener Kerzen, hörbar war, dessen lebloser Schall zwischen ihm und seinen Äußerungen längst eine Kluft in die Sprachlosigkeit gerissen hatte, die jede Überwindung unmöglich machte.“(Taschenbuchausgabe S. 473)

„Aus bilderlosen, dunkelbraunen Augen, die ihn anzusehen schienen, schrieb Enrico, habe die Fallsucht der Mutter geglüht, eine von großer, samtener Not durchdrungene Farbe der Verlorenheit (…)“ (Taschenbuchausgabe S. 649)

„Die Zeit, um die das Leben verlängert worden ist, die irgendwer nicht gehabt haben würde, ist abgelaufen, sie endet aber nicht; die Verlangsamung des Schreckens hat das Ende ins Unendliche verschoben; das Ende hört nicht auf.“ (Taschenbuchausgabe S. 494)

„(…) wenn nur die Tat grausam ist, nicht der Täter, und nur die Tat, nicht der Täter heimtückisch, verschlagen, räuberisch, listig, dann, ja dann, wenn ein Beweggrund seine eigene Niedrigkeit überlistet, wenn der Grund sich nicht mehr bewegt, sich nicht mehr von der Stelle rührt, von seiner Grundlosigkeit nicht mehr zu trennen ist, übrig bleibt, sich in seine Güte verbeißt, sich in ein Gewissen, Herz, in ein eisernes, in ein schlagendes, still in ein stehendes, stehend in ein still stehendes frißt und frißt, dann ist Hopfen & Malz verloren, dann sind wir verloren, sagte er (…)“ (Taschenbuchausgabe S. 548)

„Du Land, du Deutsch, du, gehe, du, du, doch du, gehe, doch hin, knie, hin, du Tag, du Sau, du einhelliges, Schwein du, ihr alle ihr, du, ihr alle ihr, zweideutigen, ihr, du Hundeland, Sauvater, du Land, du Un, du Tier.“ (Taschenbuchausgabe, S. 575)