Thomas Harlan über sein Schreiben
(Auszug aus einem Gespräch mit Sieglinde Geisel, 2009)
Wie ist Ihr Roman „Heldenfriedhof“ entstanden?
Im Großen und Ganzen habe ich mir unter dem Buch ein Oratorium vorgestellt. Die sublimste und allerinständigste Form der Klage, des Klagelieds. Nur was man singen kann, ist hörbar. Eine Zeile eines Gedichts wird alles offenbaren eines Tages. Bevor man nicht aus anderen Gründen verstanden hat, was geschehen ist, wird das Richtige und das Falsche keine Bedeutung haben. Und die anderen Gründe liegen meinem Gefühl nach in der Kunst allein. Die Sprache kennt ja nicht Gut und Böse. Die kennt nur das Wahre, und wenn man das Wahre trifft, gibt es Jubel und Leuchten, aus Dankbarkeit, es richtig zu beschreiben, zu erfassen, was es ist.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor?
Ganz und gar nicht wie ein Architekt. Ich nehme einfach einen Baustein und ziehe eine Mauer hoch, und dann ziehe ich die nächste Mauer hoch. Ich habe keine Übersicht, keine Konstruktion. Ich denke vorher nicht, was ich machen will, sondern das nächste Wort ruft das übernächste. Dann ist etwas gesagt worden, was ich überhaupt nicht beabsichtigt habe. Und das nicht Beabsichtigte hat wieder zur Folge, dass ich etwas sage, was ich nicht beabsichtigt habe. Wenn Worte nacheinander greifen, greifen Worte nacheinander chromatisch.
Ist dieses Schreiben eher ein Komponieren?
Alles, was in diese Richtung geht, ist richtig. Mir fällt es so schwer zu antworten, wenn ich gefragt werde: Was hast du dir denn gedacht? oder: Was meinst du damit? Wobei ich nichts denke und nichts meine. Ich habe noch nie etwas mit etwas gemeint, und ich glaube auch nicht, dass der Schatz da begraben liegt, wo man sagt: Ich habe das und das im Hinterkopf gehabt und das im Vorderkopf.
Wenn ich mich ausdrücke und etwas sage, dann sage ich ja gleichzeitig nicht, was ich nicht sagen wollte. Und das Nichtgesagte trudelt mit. Das ist immer ein Nachbar der Gedanken, manchmal ein Widersacher. Ich habe eine große Vorliebe für Zweideutigkeit, eben weil vieles zweideutig ist.
Was ist das für ein Zustand, in dem Sie schreiben?
Es ist ein Zustand von Glück, der ganz eng verbunden ist mit Lauschen. Gestöber, wie ein Wort sich das andere einfängt. Und dann schreibe ich es einfach auf. Es ist ein Trance-Zustand, ein Schöpfen in Gefäßen. Es ist nicht Nachdenken und planmäßiges Arbeiten, sondern ein Vorstoßen, geschoben von den Worten selbst. Wie Wirbelwinde. Die sind ja nicht schnell, die sind nur schrecklich stark. Sie drehen sich lange auf der Stelle, und auf der Stelle bewegen sie sich langsam vorwärts. Langsam ist nur die Kilometerzahl, die sie zurücklegen, aber ihr eigenes Wesen ist teuflisch schnell. Es ist ein Strudel. Es dreht sich auf der Stelle, und ich bohre mich rein. An den Wörtern, die dann da stehen, kann nichts Zufälliges sein. Wenn ich merke, ich stoße weiter, aber ich stoße noch nicht in das Genaue hinein, dann bewege ich mich wie eine Libelle. Ich zittere über dem Satz, bis ich reinstoße. Ich finde das richtige Wort durch Libellenzittern, schnelle, ganz schnelle Bewegung über der Fundstelle. Irgendwann ist es dann da, da gibt es nur ein Wort.
Wenn Sie so schreiben – was bedeutet für Sie dann das Wort „verstehen“?
In den Rhythmus der Komposition desjenigen einsteigen, der sich ausgedrückt hat.
Das vollständige Gespräch ist abgedruckt in Sinn und Form, Januar 2012. In diesem Heft findet sich auch der Essay „Universum der Zentrifugalkräfte. Zum schriftstellerischen Werk von Thomas Harlan“ von Sieglinde Geisel (Leseprobe).
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