Thomas Harlan:
Rosa
rororo Taschenbuch, 240 Seiten. Reinbek 2011
Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 2
(Erstausgabe Eichborn Berlin 2000)
Klappentext
Eine Lichtung bei Kulmhof in Polen. Aus der schneeverwehten Ebene wölbt sich das Dach eines Erdhauses, ein Pferd ohne Schweif ist an den rauchenden, klapprigen Schornstein gebunden, der aus dem Boden ragt. In der Höhle hausen Rosa Peham und Józef Najman. Rosa ist die ehemalige Verlobte von Franz Maderholz, dem Zahlmeister der ersten großen Judenvernichtungsaktion im Zweiten Weltkrieg. Die Asche seiner Opfer füllt den Boden der Lichtung, die seit Kriegsende Rosas Heimstatt ist. Seltsame Pflanzen wuchern dort, verwachsene Tiere bewohnen den Wald…
Jahrzehnte später erfahren ein Filmteam und ein Theologe aus alten Akten von Rosa, den damaligen Ereignissen und den unheimlichen Lebensformen im Wald – sie spüren den Schicksalen der Beteiligten nach. Die Spuren führen ins polnisch-ukrainische Grenzgebiet, in Warschauer Archive, die Karstgebirge vor Triest, eine Lungenheilanstalt in den Alpen, Phonoarchive, ins Berlin der Nazizeit, nach Walldürn am Odenwald und in andere Städte Deutschlands.
Rezensionen
- Neue Zürcher Zeitung, 14. September 2000, Bruno Steiger: Stufengebet – Nachahnungen
- Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 2000, Lothar Müller: Glücklicher, du Maßstab der Verblödung
- Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 2000, Charlotte Brombach: Gefühl in falscher Tonart
- Die Zeit, 16. November 2000, Friedhelm Rathjen: Todesursache Kameradschaft
- die horen, Band 2/2001, Gert Oberembt: Tropenflora und Erinnerungsschutt
Hörspiele zu „Rosa“ von Michael Farin
Rosa – Die Reise nach Kulmhof
Bayerischer Rundfunk 2001
Hörspiel in zwei Teilen
Bearbeitung: Michael Farin. Komposition: Helga Pogatschar. Regie: Bernhard Jugel. Länge: je 77 Min. Erstsendung: 14. Juni 2001.
- Rezension von „Rosa – Die Reise nach Kulmhof“: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 6. 01, Frank Olbert: Ein Haus aus Asche
Die Akte Rosa Peham
Bayrischer Rundfunk 2001
Hörspiel
Bearbeitung: Michael Farin, Komposition: Helga Pogatschar
Regie: Bernhard Jugel. BR/WDR 2001, Länge: 78’31:
Aufzeichnung / Audio-CD
- Rezension von „Die Akte Rosa Peham“: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.01, Frank Kaspar: Natur, die nicht vergessen kann
Wolfgang Hörner über „Rosa“
„Am Anfang stand ein Prosaschock, Wortmusik, die Lektüre des unglaublichsten Manuskripts, das ich bis dahin in Händen gehalten hatte: Thomas Harlans Rosa. (…)
Vor der einzigen öffentlichen Lesung der schwer um Atem ringende Autor, ich knapp davor, alles abzusagen, den Krankenwagen zu rufen – er auf der Bühne voller Kraft und Energie, den Text fast singend. Ein Prosaschock, Wortmusik, ein großes Buch.“
(Wolfgang Hörner, seinerzeit Verleger von „Rosa“ bei Eichborn Berlin, in Thomas Harlan Memory)
Thomas Harlan über die Entstehung von „Rosa“
„Du kannst natürlich in den objektiv gemachten Leib einer aufgequollenen, im Dunst, im pechschwarzen Dreck, unter der Erde liegenden, schwerbeschädigten Frau, einer langen Latte von Mann, der als Tempelwächter daneben steht, kannst du in das Fleisch rein, und musst noch gar nicht so sehr viel Scheu haben, wenn du zunächst mal nur weißt, wodurch es zu diesen Verunstaltungen gekommen ist. Unterschwellig kannst du’s mitschwingen lassen, aber das ist ja vorläufig nicht … das hätte ja alles sein können, hätte ein Brand sein können, ein Unfall, ein Sturz vom Pferd, alles.
Ich wusste natürlich, warum sie so aussieht, sag’s aber am Anfang ja gar nicht, oder eigentlich kaum. Ich bleibe immer nur im Körper, und deswegen konnte ich überhaupt anfangen. Da wusste ich, dass man das noch sagen kann. Aber schon nicht beim nächsten Kapitel, warum man das jetzt sagen kann. Und dann sagst du: Ich kann das ja gar nicht gesehen haben. Ich erinnerte mich dann einfach an die Personen, die damals gehandelt hatten, als ich in Polen lebte, wie das war, wie die Journalistin – so etwas Ähnliches kannte ich – die dann auf die Fährtensuche geht und in der Bürgermeisterei im Archiv dann diese alten Märklin-Kisten findet, mit Papieren und Haarproben drin.
Da konntest du ja grade noch sagen: So wie du einen Fuß beschreibst, kannst du ja auch ein Glasplättchen beschreiben, auf dem ein Barthaar liegt. Du kannst schon nicht mehr das Gesicht beschreiben, das zu dem Barthaar gehört, oder auch die Stelle, an der das Haar herausgezogen worden sein könnte, oder ausgefallen sein könnte. Hüte dich – diesen Körper darfst du gar nicht anrühren!
Und jetzt näherst du dich, durch die dauernde Umschreibung in der Entfernung, einer Sache und wusstest immer wieder: Diese Geschichten kannst du nicht schreiben, nicht beschreiben, darfst auch gar nicht. Sobald du da reintrittst, verdirbst du sie, ja, du zerstörst sie. Da ist ein Gewebe, das ist so fein, das erträgt nicht mal einen Schritt von Dir. Nun spinnst du um etwas herum, die ganze Zeit, ein Netz kann man das nicht nennen, bei Spinnen würde man sagen Netz, Netz sieht immer dicker aus.
Es ist ein Hauch, dauernder Hauch, der um alles herum liegt, der dir wie bei einem Gemälde von Turner auf London nie den Blick geben würde, außer durch Nebel, nur der Nebel macht es möglich, dass du überhaupt von London sprichst. Und ich glaube, dass die Methode der überaus großen Vorsicht und des Abschüttelns der bereits zu Unrecht, zu schnellfertig gesagten Sätze zu Sachen, diese Methode des Abschüttelns, wenn du die einmal hinter dir hast, dafür sorgen wird, dass du deine Sprache an deinem Unvermögen ausrichtest, und das ist dann ein Spiegelbild, in dem du vielleicht das, was du nicht gesagt hast, sehen kannst.
Dieser Massenmord, obwohl der nicht das Thema dieses Buches ist, ist wahrscheinlich die nächsten zweitausend Jahre lang die wichtigste Geschichte, die es überhaupt gegeben hat. Und man kann sich manchmal überlegen, ob‘s überhaupt noch eine andere Geschichte gibt als diese, so wichtig ist die.“
Thomas Harlan im Interview mit Wolfgang Farkas, in: „Leuchtkugeln aus Blut“ (Radioporträt über Thomas Harlan), Michael Farin 2001
Zitate aus Rosa
„So etwa ginge es mit den Deutschen zu; abgesehen von ihren blendenden Geschäften hielten sie sich die nächsten zweitausend Jahre lang noch für schuldig; ihre Gedenktage erinnerten nur an Niederlagen, an Sauereien, und so schön auch die Geste ihres Abgeordnetenhauses gewesen wäre, Paul Celans Todesfuge stehend anzuhören und sich die Backpfeife nicht abzuwischen, so gäbe es doch nichts Stinkenderes als den guten Willen; das Bekenntnis sei in Grund und Boden ein verrotteter Versuch gewesen, der Wahrheit aus dem Wege zu gehen, gut Wetter zu machen als Vorschuß auf den nächsten Atmoschlag undsoweiter (…)“ (Taschenbuchausgabe S. 139)
„Die Geschichte endete folgerichtig, bevor sie anfing. Daß zwischen Anfang und Ende nichts lag, nicht einmal Stille, und daß diese Abwesenheit, möglicherweise sogar von Schmerz, irgend etwas anderes als nichts sein könnte, wunderte nur jene, die noch nie eine Geschichte erzählt hatten, ohne zu fürchten, daß alle Wörter, derer sie habhaft geworden sein mochten, an ihrem Inhalt vorübergegangen, und dort, wo sie, über dem Abgrund stehen, wie auf Klippen und in schwindelnder Fallhöhe von diesen angezogen, erstorben waren an ihrem Unvermögen, den Sturz ins Leere zu wagen. Worte, das wußte der vertuschte, nie vermittelte Geschichte wie einen Hof kalten Gestirns umschwirrende Hohlraum, waren Selbstmörder; sie nahmen sich, indem sie auf einen Sache trafen und in ihr aufgingen, eben jenes Leben, das sie der Sache gegeben hatten, und sorgten so, bisweilen mit ganzen Sätzen und deren Bau, in den sie sich auf der Lauer eingegraben hatten, für Stille, für unendliche Stille.“(Taschenbuchausgabe S. 217)
„Doch, heißt es dann, schon ihre erste, noch in anscheinender Erdnähe verlaufene Flugbahn war eine das unter ihr dämmernde, verbissen blutgetränkte Licht abschleckende Milchstraße, zu der aufstrebend, lotrecht, in einem toten, jeglichen Verstand zu Boden zwingenden Winkel siebenundneunzigtausend Lufthüllen in ihrem Gefolge in die Heliumschicht zurückstürzten, die Gestalt Rosas vorausschickend, die steil, mit dem Ausbruch ihres Körpers aus dem Gestein, fast senkrecht, donnernd in den Mondhimmel einfuhr.“ (Taschenbuchausgabe S. 226)
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