Thomas Harlan: Die Stadt Ys

Thomas Harlan:
Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben
rororo Taschenbuch, 304 Seiten, Reinbek 2011
Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 4
(Erstausgabe Eichborn Berlin 2007)

Klappentext

Von Geisterstädten, doppelten Leben, vergeblichen Lieben.

1937 trifft Stalin eine Entscheidung, die es den Feinden schwermachen soll, Wotkinsk, Geburtsort Tschaikowskis und Mittelpunkt der russischen Rüstungs­industrie, zu zerstören. Er läßt die Stadt ein zweites Mal erbauen, 52 Kilometer entfernt von der ersten, mit zweitem Schwanensee, mitsamt zweitem Geburtshaus Tschaikowskis, zweitem Klavier, Bett und zweiten Originalpartituren – nicht aber den riesigen Muni­tionsfabriken, die nur unter Wotkinsk I liegen. Wotkinsk I war fortan auf keiner Karte mehr zu finden.

So eine der vielen, ineinander verwobenen Geschichten aus « Die Stadt Ys ». Sie handeln von Apparatschiks, Heroen, Idioten, Künstlern, Städten und Grenzen. Sie spielen in Kasachstan, im Ural, an der Kurischen Nehrung, in Vietnam und an der Grenze zum Iran.

In diesem literarischen Raum ersteht eine Welt, die seit 1989 versunken ist, aber unauslöschlich im historischen Gedächtnis erhalten bleiben wird: die Welt des sowjetischen Reiches und seiner Satellitenstaaten.

Leseprobe

Rezensionen

Zitate aus „Die Stadt Ys“

„Nimm einen gewöhnlichen Kriminalfall. Wenn von Mord die Rede ist, erwartet der Zuhörer, daß nach einem Mörder gesucht wird; die Geschichte fängt mit einem Mord an und alles läuft darauf hinaus, daß am Ende der Mörder gefunden wird, oder auch nicht gefunden wird. In einer sowjetischen Geschichte ist das nicht so. Da sucht niemand nach dem Mörder; man sucht nach dem Grund, oder man sucht nach nichts; man sucht gar nicht erst. Es hat keinen Sinn mehr zu suchen, weil das, was hätte gesucht werden sollen, schon gefunden worden wäre, bevor man überhaupt zu suchen begonnen hätte; es hat keinen Sinn, irgend etwas zu beginnen, sagst du dir, Sinn hat nur, damit aufzuhören. Womit? Egal womit.“
(Taschenbuchausgabe S. 61 f.)

„Die eigentliche Geschichte des Iwans der Kaserne der frühen Jugend wäre, ließe sie sich erzählen, eine Liebesgeschichte, wenn auch eine Geschichte, die sich vielleicht nie zugetragen hat, oder nur zu Zeiten großer Wirrnisse sich hätte zugragen können oder unter dem Schleier anderer Geschichten als etwas Mögliches erkennbar werden, das, wenn auch nur bruchstückweise, wahr und deshalb vielleicht erzählbar geworden wäre und in die Kindergründe Iwans zurückblicken ließe, in denen sie, wortlos, entstanden war.“
(Taschenbuchausgabe S. 237)

„Seine Erfahrungen in der illegalen Parteiarbeit und die wunderbare Aussicht auf die Allmacht der Bedeutungslosen hatten ihn gelehrt, daß auch Zuneigung Schuld sein könne, die Neigung, den erbitterten Erbauern der Neuzeit für den Versuch ihres Aufrechtgangs angesichts der Hülle und Fülle von Untermenschen blind und bedingungslos Glück zu wünschen.“
(Taschenbuchausgabe S. 194)

„Hoch, höher als, über Jakobselv, der Sund, dort, wo, zwischen Linakhamari-Wasserturm und Molkerei ‚Heroischer Käser‘, der Nyk in die Barentssee fließt, liegt im Eismeer – liegt, steht noch nicht – vor Bjørnstad, ein Denkmal, rostbraun, verkommen, in 69 Grad 46 Minuten nördlicher Breite 30 Grad 49 Minuten östlicher Länge, doppelt, auf Rotnickelkies, sich in sich selbst spiegelnd, noch von Heringen umschwärmt und, bald, dann zweimal erhaben schon über die See sich auf- und himmelwärts richtend, landeinwärtws, südwärts, mit Schlauchpilzen gelb bespickt geschminkt aus dem Schaum tretend, und tritt und biegt, bricht, an der Steilküste sein Ebenbild hinanwirkend an Land, auf und steht, siehst du, da, zwischen Käserei und Todesstreifen.“
(Taschenbuchausgabe S. 232)